Barras – Allemagne-en-Provence

Wir fliehen früh vor den Fliegen, dringen ein paar Kilometer weiter vor ins Tal, Frühstück an einem schattigen Feldweg, etwas weniger Fliegen, aber immer noch genug, wir sind im Tal der Fliegen. Ich darf losziehen, schreiben, heute kein Bächlein, dafür zwei Kampfjets, die im Tiefflug über unsere Köpfe dröhnen. Kann mir die Angst kaum vorstellen, wenn wirklich Krieg wäre. Ich wandere mit dem Halbschatten durchs Gesträuch.

Maike hat geantwortet, bekräftigt ihre Einladung. Wir sagen sofort zu.

Es ist heiß, die Fliegen erinnern uns mit jedem Hautkontakt daran, wie dreckig wir uns fühlen, wir müssen heute Nachmittag ans Wasser. Der Lac de Ste-Croix liegt fünfzig Kilometer südlich von uns, nicht östlich, wo wir eigentlich hin wollen. Aber mit einem Ziel vor Augen können wir uns diesen touristischen Schlenker erlauben. Ich darf fahren, es wird schnell kurvig und steil, dabei wähnten wir uns raus aus den Bergen. Plötzlich hört der Wald auf, und mit ihm die Kurven und das Steile, wir sind oben. Sofort weitet sich die Landschaft. Wir sind auf einem Hochplateau, das aussieht wie frisch dem Provence-Fotokalender entstiegen. („Stell Dir vor, wenn diese Lavendelfelder jetzt noch blühen würden, und die Sonnenblumen!“) Die ockerfarbenen Felder, im Hintergrund blau-lila Hügel und in der Sonne gleißende Felsen, alles weich gezeichnet und irgendwie „romantisch“. Als läge ein Sepia-Filter vor der Pupille. Volker macht Fotos, und bemerkt dabei, dass man dazu neigt, begierig ebenjene Motive zu reproduzieren, die man bereits kennt. So entstehen sie dann, die kollektiven Vorstellungen davon, wie „Provence“ aussieht.

Der Lac de Sainte-Croix liegt wie hingegossen im Tal zwischen Felswänden und bewaldetem Hang des Hochplateaus. Eine riesige, türkisgrüne Pfütze. Auf den ersten Blick wirkt er etwas weniger voll als der Lac de Serre-Ponçon. Aber als wir lassen den ersten Parkplatz rechts liegen, schauen, ob es noch besser wird, aber es wird nur voller und voller. Ein Seitenarm des Sees streckt sich weit in den Fels hinein, das Grand Canyon du Verdon. Die Schlucht sieht aus wie ein Bild aus dem Wimmelbuch „Sommer“. Das Wasser ist bedeckt von Schlauchbooten, Luftmatratzen, Surfboards. Auch an den Steilufern hängen Menschen, picknicken im Fels. Wir wenden und kehren zurück zum ersten Parkplatz.

Abendessen am Rande des Hochplateaus, die Sonne versinkt hinter den abgeernteten Lavendelreihen. Toni will die Tortillas nicht essen, enttäuscht darüber, dass wir anders als versprochen doch nicht beim Bäcker waren. Wir waren froh, den Düdo mit heilem Lack wieder raus zu kriegen aus dem Bergdorf Moustiers-Sainte-Marie – einen Bäcker hatten wir auf Anhieb nicht gefunden. Vielleicht hätten wir uns mehr Zeit zum Suchen nehmen sollen. Ein Fehler. Zweiter Fehler: Wir brechen nach dem Abendessen auf, planen eine Nachtfahrt. Haben unterschätzt, dass es, anders als vor ein paar Wochen, nach Sonnenuntergang quasi sofort dunkel ist. Wir wollen nicht im Dunklen durch eine Landschaft kurven, von der wir nicht wissen, ob sie atemberaubend schön ist.

Suchen also schon nach zwanzig Minuten Fahrt einen Schlafplatz. Finden keinen. Ist auch schwierig im Dunkeln. Die Kinder sind noch wach. Wir halten schließlich an einem Abzweig, es gibt Platz neben einem Baum. Der Düdo steht ziemlich schräg. Ich steige aus, Volker rangiert. Lege mich zu den Kindern, lese bis sie einschlafen. Habe mir aus dem Bücherregal von Volkers Mutter „Kruso“ ausgeliehen. Obwohl wir auf einer kleinen, schmalen Landstraße sind, rasen regelmäßig Autos vorbei. Viele hupen in dem Moment, in dem sie an uns vorbeifahren. Was soll das bedeuten? Volker will den kleinen Abzweig nehmen, er habe auf Google Maps gesehen, dass sich der Feldweg an einer Stelle zu einer Art Parkbucht verbreitere. Eine Parkbucht ist es nicht wirklich, wir stehen halb auf dem Feld, halb auf dem Weg, ein Traktor käme nicht an uns vorbei. Wir stellen uns den Wecker auf sieben, wollen hier früh verschwinden, bevor der Traktor kommt.

Ich versinke in meinem Buch, irgendwie überträgt sich das Gelesene auf unsere Situation, der Klausner wird zum Düdo, mit uns als Besatzung. Ich markiere mir die Stelle: „Alles was geschah, geschah nicht nur, jede Katastrophe war notwendiger Bestandteil des Gesamtablaufs.“

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