Cabo Negro – Algeciras

Zurück zur Lavage, an der wir gestern vorbeigekommen sind. Es ist derselbe Preis wie in Asilah. Diesmal willigen wir ein. Peppi hat wahnsinnige Angst, als der Wasserstrahl auf den Düdo knallt, es zischt und trommelt wirklich laut. Ich steige mit ihr aus, lasse sie balancieren auf dem Mäuerchen an der Straße. Ein Mann im Rollstuhl schubbert sich an uns vorbei, er zieht sich zentimeterweise mit einem Fuß voran. Ich denke erst, er bettelt, aber er spricht uns nicht an. Peppi will jetzt Hoppe Hoppe Reiter. Als ich wieder gucke, liegt der Mann, hundert Meter hinter uns, auf dem Gehweg, flach auf dem Rücken. Man sieht das hier manchmal, Männer, die auf dem Boden in der Sonne liegen, oft sehen sie abgerissen aus, manche sind aber einfach nur sehr alt. Ich weiß also nicht, ob der Rollstuhlfahrer sich sonnen will, oder ob er einen Schwächeanfall hat. Ich bringe ihm, Peppi auf dem Arm, Datteln und Wasser, er scheint zu schlafen, ich stupse ihn mit der Flasche am Arm, er wacht auf, winkt sofort ab, bedeutet mir, dass es ihm gut geht. Ich stelle ihm trotzdem das Wasser und die Datteln hin, gehe schnell weg, hoffe, dass ich ihm nicht zu nahe getreten bin.

Der Macho vom Pferdehof hat mir eine hübsche Skizze gemacht, Wegbeschreibung zum nächsten Souk. Aber es ist 1. Mai, vielleicht sei auch alles zu. Der Ort heißt M’Diq. Die Läden haben offen, ein großer Obststand auch. Der Verkäufer schreit die Preise heraus, ich kann kaum seine Aufmerksamkeit gewinnen, um mein Obst abzuwiegen.

Der erste Geldautomat spuckt kein Geld aus, bei den Leuten vor mir auch nicht. Der Monitor vom zweiten Geldautomat ist dunkel. Zum Glück schaue ich beim Düdo vorbei, bevor ich einen dritten suche, denn wir müssen unbedingt weg von dem Straßenrand, an dem wir stehen. Gleich gibt es eine Taxifahrer-Demonstration. Die Polizei hat schon zweimal geklopft. Volker will am liebsten raus aus der Stadt, aber ich will noch einkaufen. Wir brauchen noch eine Metall-Tajine! Und Gauloises für 22 Dirham! Wir rumpeln durch eine wahnsinnig enge Straße, so knapp ist unser Seitenspiegel noch nie an einem anderen vorbeigeschwebt.

Auch der dritte Geldautomat lehnt die Transaktion ab, bei der Frau vor mir auch. Sie spricht fließend französisch, hat eine Cousine in Aachen, vermutet, dass es am 1. Mai liegt, als ich ihr erzähle, dass auch die anderen Geldautomaten nicht tun was die Leute von ihnen wollen. Leichtes, freundliches Geplauder, aber ich muss zurück, Volker und die Kinder warten im heißen Auto. Muss genau abwägen, was ich für die letzten 50 Dirham kaufe. Obst, Brot, Zigaretten, ein paar Dirham muss ich übrig lassen für den Parkwächter. Der will dann gar nichts, sagt Pas de Problème, als ich ihm berichte, dass wir fast kein Geld mehr haben und die Geldautomaten außer Betrieb.

Langes Rumgerenne für sehr wenig Einkauf also, aber die 14:45-Uhr-Fähre ist nicht mehr zu schaffen, erst recht, als uns einfällt, dass es in Spanien, also auch in Ceuta, eine Stunde früher ist. Toni liegt schlapp auf dem Bett, ist sogar eingeschlafen, während ich einkaufen war. Sie hat seit heute Morgen dreimal gekotzt und ist richtig krank.

Die Grenze stressig wie beim ersten Mal. Diesmal machen wir aber alles richtig, brauchen wirklich keine Hilfe. Lange Schlangen, viele Autos, wahrscheinlich haben lauter Marokkaner, die in Spanien arbeiten, das lange Wochenende für einen Heimatbesuch genutzt und fahren jetzt zurück. Den 1. Mai hatten wir überhaupt nicht auf dem Schirm.

Volker sagt, dass ich die Kinder auf den Schoß nehmen soll, um die Grenzer freundlich zu stimmen. Wir wollen vermeiden, das Katzen-Dokument zeigen zu müssen, für das wir damals in Algeciras 160 Euro gezahlt haben. Wir haben es zwar, aber es ist nicht hundertprozentig astrein, weil es die Schummelei mit dem nachträglich eingetragenen Datum gab. Außerdem nur ein Ausdruck, nicht das Original, das liegt noch Algeciras.

Ein dicker, alter, spanische Grenzer raunzt uns an, dass die Kinder in die Kindersitze müssen. Er überwacht, wie ich sie reinsetze und anschnalle, Peppi fängt herzzerreißend zu weinen an. Dann bedeutet er mir, dass ich mich auch anschnallen müsse, bevor Volker nach Spanien darf. Aber nach der Katze fragt er nicht. Geschafft.

Tschau, ihr tapferen Marokkanerinnen und Marokkaner. Hallo, ihr jungen Spanierinnen mit den irre knappen Hotpants, die sich über Eure Pobacken spannen. Und ihr oben ohne joggenden Spanier.

Wir sind lange vor Abfahrt der Abendfähre am Hafen von Ceuta, jetzt kann nichts mehr schief gehen, Volker atmet auf. In zwei Stunden werden wir den afrikanischen Kontinent verlassen. Das Hafengelände ist abgeriegelt, Pass- und Ticket-Kontrolle, hohe Metallzäune mit Natodraht obendrauf. Hinter dem Zaun eine Bande halbwüchsiger Jungs, die es offenbar irgendwie nach Ceuta geschafft haben. Drei von ihnen, die kleinsten, quetschen sich durch die Gitterstäbe, rennen plötzlich zwischen den wartenden Autos herum. Ein Hafenmitarbeiter in gelber Warnweste zeigt sich unbeeindruckt, trinkt weiter seinen Kaffee. Zwei Jungs rennen wieder zurück zum Zaun, quetschen sich wieder raus. Der dritte ist verschwunden.

Volker hat eine Ahnung. Er steigt aus. Als er wieder reinkommt, sagt er, dass der dritte Junge auf unserem Reserverad unterm Düdo sei. Jedenfalls vermute er das. Er habe da, wo sonst alles schwarz sei, etwas Helles blitzen sehen, womöglich sein T-Shirt. Das Band, vor dem wir gewartet haben, wird weggenommen, die Autos fahren los, Richtung Fähre. Ich steige aus, will auch noch mal gucken, unauffällig. Ich kann nichts sehen, will mich ja nicht runterbücken, keine Aufmerksamkeit erregen. Ich steige wieder ein, wir fahren los, im Schritttempo. Toni ist die Situation unheimlich. Wir haben Herzklopfen, wie viel Herzklopfen muss erst der Junge haben. Wenn er denn wirklich da ist. Volker ist sich nicht sicher, und ich habe ihn nicht gesehen. Was sollen wir denn jetzt machen?

Noch mal Kontrollen. Ein Polizist hält einen Spiegel an einer Stange unter den Düdo, geht ein paar Schritte. Wenn der Junge da ist, wird er jetzt auffliegen. Ich rechne damit, dass es jeden Moment sehr, sehr unangenehm wird. Doch der Polizist winkt uns weiter, er hat nur die Fläche zwischen beiden Achsen ausgespiegel, nicht die Stelle weiter hinten, wo – womöglich – der Junge kauert.

Wir rollen in den Bauch des riesigen Schiffes, halt Dich gut fest, Kleiner – wenn Du da bist. Ein dicker Warnwestenmensch winkt uns auf unsere Parkposition. Was sollen wir denn jetzt machen? Ich gehe noch mal gucken. Sehe nichts. Noch mal, ich schubse einen leeren Wasserkanister auf den Boden, um einen Vorwand zu haben, mich zu bücken. Ich sehe nicht viel, aber ich sehe, dass da was ist, wo sonst nichts ist. Was sollen wir denn jetzt machen?

Die anderen Passagiere sind mittlerweile aufs Oberdeck gestiegen, auch die Warnwesten sind weg, wir sind allein auf dem Parkdeck. Wir schließen den Düdo ab, Volker schirmt mich mit den Kindern ab, falls doch irgendwer guckt, ich kauere mich hin und halte eine flache Viererpackung Oreo-Kekse in die Dunkelheit über dem Reserverad. Eine trockene, warme, kleine Hand greif nach meiner, eine Sekunde nur, nimmt die Kekse, der Junge wispert ein Wort auf arabisch mit aufgeregter, rauer Stimme.

Die Fähre ist so voll, dass wir fast keine Sitzplätze finden. Toni entdeckt schließlich zumindest zwei nebeneinander. Da sitzen wir, jeder ein Kind auf dem Schoß, und versuchen durchzuatmen. Was sollen wir denn jetzt machen? Ich stelle mir vor, wie es wäre, den Jungen zu adoptieren. Kurz vor Gibraltar riesige Wellen, der Bug des Schiffes hebt sich, klatscht dann aufs Wasser. Johlen und Kreischen bei den Passagieren, Peppi und Toni fangen an zu weinen. Riesige Containerschiffe ziehen an uns vorbei. „Deutsche Afrika-Linien“.

Der Hafen von Algeciras ist riesig, wir fahren und fahren und sind immer noch drauf. Wir wollen nicht zu schnell fahren, um das Kind nicht zu gefährden. Und nicht zu langsam, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Noch ein Kontrollposten, diesmal mit Hund. Der Polizist winkt uns im Schritttempo durch.

Wir finden einen kostenlosen, öffentlichen Parkplatz in Algeciras, stellen uns auf die Schotterfläche hinter ein paar Müllcontainern. Auf dem Parkplatz sind Leute, aber etwas Besseres werden wir nicht finden. Volker bückt sich zum Reserverad, bedeutet dem Jungen, raus zu kommen. Er ist sowieso gerade im Begriff, abzusteigen, leider auf der Seite, auf der nicht die Türen sind. Wir winken ihn einmal um den Düdo herum und rein zu uns. Zwei jugendliche Mädchen, die in der Nähe auf ihren Smartphones tippen, haben höchstwahrscheinlich beobachtet, wie er unter unserem Bus vorkriecht. Lange sollten wir hier nicht bleiben. Andererseits ist es auch egal, der Düdo ist leicht zu beschreiben und schwer zu verstecken. Zumindest ziehen wir die Vorhänge vor.

Dann steht er da, in unserem Düdo, Gesicht und Hände schwarz verschmiert von der Fahrt unterm Auto, und lächelt, streckt den Daumen hoch. „Schukran“. Volker gibt ihm ein Glas Wasser. Er spricht kein Wort französisch oder englisch. Er heißt Sufjan. Er ist 12. Wir fahren erstmal weiter.

Toni sitzt im Kindersitz in Fahrtrichtung, Sufjan gegenüber. Peppi wehrt sich so sehr dagegen, im Kindersitz zu sitzen, dass ich sie raushole und auf den Schoß nehme. Die Vorhänge sind ja zu. Toni fängt an zu weinen, ihr ist wieder schlecht. Ich gebe ihr eine Schüssel. Dann ist es aber Peppi, die plötzlich kotzt, auf mich. Volker verfährt sich. Wir landen wieder im Ort Los Barrios statt im Gewerbezentrum Los Barrios. Sufjan hat sich umgedreht und schaut zwischen den Sitzen nach vorne heraus. Offenbar kann er den Blick nicht abwenden von dem, was er da sieht. Eine Schnellstraße. Europa.

Der Carrefour hat zu, 1. Mai. Ich hatte gehofft, dass er offen hätte, hatte irgendwo ein Carrefour-Plakat gesehen, abierto Domingo y Festivos, aber das bezog sich wohl auf einen anderen. Wir haben kein Trinkwasser mehr und fast nichts zu essen. Wir halten neben dem McDonalds. Ich kaufe Pommes und Cola für alle.

Sufjan scheint keinen erkennbaren Plan zu haben, wo er hin will. Wir fragen uns, womit wir eigentlich gerechnet hatten. Mit gar nichts. Aber wir waren irgendwie davon ausgegangen, dass er irgendwo in Europa Verwandte hätte, zu denen er wollen würde. Das ist nicht der Fall. Er kommt aus Tanger. Er hat einen Freund in Madrid. Er ist hilfsbereit und nett und manchmal huscht ein frohes Grinsen über sein Gesicht. Wahrscheinlich immer dann, wenn er sich klar macht, dass er es wirklich nach Europa geschafft hat. Er fragt nach einer Zigarette.

Vorhin gab es keinen Moment des Zweifels, ob wir das Richtige tun. Wir waren die Guten. Und das Adrenalin. Jetzt Ernüchterung. Als Marokkaner hat er nicht den Hauch einer Chance auf Asyl. Wie um alles in der Welt soll es denn jetzt weiter gehen? Wir brauchen einen Dolmetscher. Wir rufen Mido in Berlin an. Teilnehmer nicht erreichbar. Vielleicht hat er längst eine neue Nummer. Es geht auf elf zu. Wir rufen trotzdem lauter Leute an, von denen wir denken, dass sie uns helfen könnten. Sumeja ruft zurück, ihre Schwägerin kann dolmetschen, auch noch mitten in der Nacht. Danke, danke, danke.

Wir erfahren kurioserweise kaum mehr als das, was wir schon ohne Sprache herausgefunden hatten. Sufjan hat eine Mutter und zwei kleine Brüder, keinen Vater. Er will zu seinem Freund nach Madrid, um dort, wie der, im Kinderheim zu leben. Er kennt weder Namen noch Adresse des Kinderheimes, noch hat er die Telefonnummer seines Freundes.

Sufjan will seine Mutter anrufen. Wir verstehen das Wort „Caravan“. Als er mir das Telefon reicht, ist eine Männerstimme dran. Der Mann spricht auch kein französisch. Ich gebe Sufjan das Telefon zurück. Er ist so müde, dass er ständig einnickt. Wir bauen ihm aus Decken ein Bett auf den Sitzen.

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