Deutschland

Siebeneinhalb Wochen in Deutschland, das Blog macht Sommerpause. Böblingen. Frankfurt. Leipzig. Berlin. Böblingen. Wir treffen unsere Familien. Das kann alles nicht ins Internet. Die Sinnkrise, unser Begleiter, seit wir unterwegs sind, läuft zu großer Form auf.

Tonis Angst vor der Polizei auch. Als wir ein Schild ignorieren, das eine Straße nur für Landwirtschaftlichen Verkehr freigibt, um einen schönen Platz zum Halten zu finden, weint sie so angstvoll und verzweifelt, dass wir die eigentlich perfekte Parkbucht zwischen Feldern und Waldrand wieder verlassen müssen. Sie will auch nicht mehr vorne sitzen, sogar dann nicht, wenn ihr hinten schlecht wird wegen Kurven. „Schnall Dich bitte an!“ drängt sie, sobald ich mich während der Fahrt im Düdo bewege. Woher diese Sorge? Hat sie neuerdings einen Begriff von unserer Sterblichkeit?

Von einer herrlich durchzechten Nacht in Bernhards Küche trage ich einen einwöchigen Kater davon. Die metaphysische Verdunklung verfolgt mich noch länger. Was wollten wir eigentlich in Berlin?

Vorbei an Oberhäslich und Elend, gelangen wir nach Wiednitz in Sachsen, unser zweiter und vorerst letzter Workaway-Versuch. Komplexe Gemengelage aus willkommenheißendem Aufgehobensein in der Gruppe teils sehr junger, ausnahmeslos sehr netter Workawayer an den Abenden. Und Fluchtgelüsten tagsüber. Die Arbeit – einen Sandkasten anlegen – ist gut für uns, das Konzept des Projektes – Lernmethoden mit angewandter Neurowissenschaft – interessant. Ich habe einen guten Draht zur Gastgeberin, einer Autodidaktin, die Tag und Nacht für ihr Projekt schuftet. Aber irgendwie ist der Wurm drin.

Unsere Kinder können das einzige andere Kind nicht leiden, das hier ist. Ein bedauernswerter fünfjähriger Italiener ohne jedes Distanzverhalten. Toni versucht, mit ihm zu spielen, gesteht aber am Ende des ersten Tages: „Er liebt mich, aber ich mag ihn nicht.“ Peppi kneift oder tritt ihn, sobald er bei uns auftaucht. Pierro haut oder schubst sie dann, Peppi brüllt, und alle schimpfen den armen Pierro aus. Wir reden uns den Mund fusselig, dass die Anderen aufhören sollen, das arme Kind zu beschuldigen. Mit angewandter Neurowissenschaft hat das alles wenig zu tun.

Wir werden an dem maximal pragmatisch aufgetischten Mittagsbuffet (eingeschweißtes Supermarkt-Brot, billiger Scheibenkäse, Gurken, Tomaten und Salat ohne Dressing) nicht satt. Die Abendessen variieren zwischen lecker und ungenießbar, je nachdem welcher Workawayer fürs Kochen zuständig ist. Die Stimmung untereinander ist warm, aber in Bezug auf Arbeit und Essen herrscht unter den Workawayern Frustration. Die Widersprüche machen mir zu schaffen. Nach einer Woche reisen wir im Guten ab.

Wenn Toni unsere Sicherheitsbeauftragte ist, ist Peppi die Projektmanagerin: Sie nimmt den Schnuller aus dem Mund, damit wir sie gut verstehen und erkundigt sich beflissen: „Müssen wir tanken?“ Sie kann sich nicht entspannen, wenn Zeug von uns verteilt ist. Alles muss eingesammelt, mitgenommen, gesichert werden.

Peppi hat immer mehr dabei. Es fing an mit dem Glupschi-Äffchen, das immer mit musste. Dann waren es das Glupschi-Äffchen und das gelbe Muschelförmchen. Dann das Glupschi-Äffchen, das gelbe Muschelförmchen, und die Schaufel. Schaukeln ging da schon kaum mehr, denn sie wollte die Sachen nicht aus der Hand geben. Dann das rosa Pferdchen von ihrer Cousine zweiten Grades Jessica. Gestern waren es sechs Kuscheltiere in beiden Armen und drei Steine im Fäustchen.

Ich hadere mit unserem Deutschlandschlenker, bilde mir ein, dass wir jetzt schon den zweiten Sommer in Folge ausschließlich auf der Böblinger Wendeplatte verbringen. Es kommt mir so vor, als sei dazwischen nichts passiert. Wir hatten Gründe, den Sommer in Deutschland zu verbringen, ich kann mich an sie erinnern. Hadere trotzdem. Der deutsche Sommer ist verregnet und kalt, wenn es nicht gerade unerträglich schwül ist.

Alle, von den engsten Freunden bis zu den entferntesten Bekannten, stellen uns die selben zwei Fragen: Wo fahrt ihr als nächstes hin? Und: Zieht ihr nach der Reise wieder nach Berlin? Die Antwort auf beide Fragen lautet: Wir wissen es noch nicht. Ich höre mich in diesem Sommer so oft sagen „Wir wissen es noch nicht“, dass ich anfange zu glauben, wir wüssten eigentlich überhaupt gar nichts. Absolute Verunsicherung. Wir haben völlig aus dem Blick verloren, was wir mit der Reise eigentlich bezwecken. Gab es je einen Zweck? Oder konnten wir die Flucht aus B-Felde einfach nicht anders bewerkstelligen? 

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