hinter Briançon - Selonnet

Das Geräusch des Wasser erfüllt meinen ganzen Körper, als würde es in den Zellen rauschen. Es entspannt mich von innen, ohne dass ich, wie sonst, etwas dafür tun müsste. („Wer sich schneller entspannt, ist besser als jemand der sich nicht so schnell entspannt“ (Peter Licht)) Verstehe die Lust, loszuwandern. Auf einen dieser Berge hoch, am liebsten querfeldein, es sieht so einfach aus. Bloß dass vor dem Loswandern in der Realität ja immer das Rucksackpacken kommt. Statt dessen setze ich mich mit meinem Teppich und dem Laptop auf einen sonnigen Fleck ans Ufer der Durance. Aber es ist eigentlich zu herrlich um zu schreiben.

Ein schnell fließender Gebirgsbach mit weißgrauem Wasser, jener Farbe, die Flüsse in den Bergen immer haben, warum das so ist, weiß ich nicht. Die Sonne wärmt mir den Rücken, immer noch die rote Daunenjacke trotz August und endlich wieder Süden, aber es ist erstens früh und zweitens hoch oben. Ich sitze im Klangbad. Weißes Wasser, besser als weißes Rauschen. Rechts vor mir, mit zwei Schritten wäre ich da, brechen sich die Wellen an einer Wurzel, die aus dem Wasser ragt. Das gibt helle, satte Gluckser. Links, wo das Wasser hinströmt, muss es über einen runden Felsen, gischtige Verwirbelung. Ein konstantes, irgendwie vollständiges Dröhnen. Es ist eigentlich kein Dröhnen, sondern etwas Feineres. Nur die Macht hat es vom Dröhnen. Meine Unfähigkeit, Klänge zu beschreiben. Hätte man das als Musikwissenschaftlerin gelernt?

Was von meinem zweisemestrigen Kunstgeschichtsstudium übrig geblieben ist: Für Bredekamp eine Marmorbüste zu beschreiben, auf mindestens zwanzig Seiten. Nicht weniger. Die Aufgabe, sich in der Beschreibung zu verlieren, in immer feinere Verästelungen vorzudringen, zu erkennen, dass Beschreibung per se unendlich sei. Bredekamp, sinngemäß: Man kann auch über einen Quadratzentimeter zwanzig Seiten schreiben. Neben mir liegt, wie ein Molekülmodell, ein fingernagelgroßes Bröckchen Styropor.

Beseelt von meinem Vormittag am Bach, verlassen wir den Stellplatz am Betonwerk inmitten des Gebirges. Was für ein herrlicher Ort. Keinem Menschen begegnet, nur früh am Morgen hat jemand einen Container neben dem Düdo abgeladen. Einsamkeit findet man neben Betonwerken, nicht an Wanderparkplätzen. Es geht bergab, leider wird die Landschaft schnell unspektakulärer, lieblich statt schroff. Vom Hochgebirge runter fahren ins Vorgebirge ist dramaturgisch nicht so gut.

Der See ist ein türkisgrüner touristischer Hotspot. Überall Wohnmobile. Der Campingplatz, den ich uns gestern morgen im Internet recherchiert habe, ist das Gegenteil von dem, was wir uns aufgrund der Fotos erhofft hatten. Es sah so aus, als liege er mitten in der Natur, Blick auf die Berge, ein geschmackvoller Pool mit dunklen Holzplanken. Der Pool ist winzig und an drei Seiten von Kunstrasen umgeben, die Berge sind nicht zu sehen, dafür hört man laut die Straße. Zum Glück ist er eh voll und wir könnten gar nicht bleiben. Toni bricht zusammen, als sie hört, dass wir weiterfahren.

Alle sind hungrig, es ist nach zwei und wir haben nicht zu mittag gegessen, dachten, wir würden das auf dem Campingplatz machen. Wir wollen weg vom See. Aber der ist riesig, und alle Straßen führen an ihm entlang. Wir wollen zu einem anderen Campingplatz, Nummer zwei meiner gestrigen Recherche, auf der Karte sieht er nah aus, aber laut Navi sind es 50 Kilometer, kein Wunder, es geht ja in tausend Serpentinen hoch und wieder runter. Picknick an einem Seitenarm des Sees, ich bin froh über die Stelle, schattig und Pinienduft, der Düdo schirmt uns von der Straße ab. Tomaten mit Mozarella, Butter, Roquefort, selbstgemachter Eistee. Der Kühlschrank erleichtert unsere Versorgung ungemein.

Steige mit den Kindern einen sandigen Pfad durch Pinien zum Strand hinab. Selbst hier, an dieser eher unzugänglichen Stelle, sind Menschen. Das Wasser ist voll von Leuten, die auf einer Art Surfbrett stehen und sich mit einem langen Paddel vorwärts schieben. Es muss leichter sein als es aussieht, denn sogar ältere, dicke Frauen kriegen das hin. Außerdem lauter Motorboote und diese Scheißdinger, auf denen man im Stehen rumheizt. Würde ich ja sofort verbieten. Versaut doch allen die Laune, außer den Motorboot- und Scheißding-Fahrern natürlich.

In Ufernähe ist das Wasser nicht türkis, sondern weißlich vom aufgewirbelten Lehm. Plansche mit Toni im Tiefen, Peppi will nicht so richtig rein, wartet lieber am Ufer auf uns. Die Kinder bauen Berge und Höhlen aus dem hellen Schiefer, aus dem der Strand und alles hier besteht. Bestimmt auch die Berggipfel am Horizont. Was für ein leichter Nachmittag.

Als wir losfahren, ist es fast sechs, und ich sage, dass ein Campingplatz jetzt nicht mehr lohnt. (Wir wollen ja ein paar Tage auf einen Campingplatz, um uns zu erholen, von Deutschland und allem, und um Zeit für die Planung der unmittelbaren Zukunft zu haben, also die nach wie vor klaffende Frage: Wo sollen wir hin?) Lieber gleich morgen, aber heute nochmal frei stehen, Geld sparen. Wir kurven wieder in die Berge hoch, aber es ist vertrackt, immer wenn man eine braucht, findet man keine Stelle. Auch die App schweigt.

Wir sind jetzt schon in dem Ort, wo der Campingplatz ist, aber es ist jetzt halb acht, es wäre doch verrückt, also weiter, es gibt eine France Passion Station in der Nähe. Auf dem Weg dorthin ein Entsorgungszeichen, und stimmt, wir müssen dringend Klo ausleeren, wenn wir heute auf keinen Campingplatz fahren. Wir folgen dem Schild, schieben uns durch das Örtchen, sind zu weit, wenden, wieder zurück durch das Örtchen, wenden, noch ein Versuch, wir sehen das Zeichen, aber das Bezeichnete fehlt immer noch. Dafür erscheint ein Rummelplatz zu unserer Linken, wir werfen uns einen besorgten Blick zu, zu spät, Toni und Peppi haben den Rummel auch entdeckt. „Anhalten!“ kreischen beide Kinder, und brechen in wildes Geschrei aus, als sie merken, dass der Düdo nicht anhält, sondern vorbeifährt, aus dem Dorf hinaus, den Rummel immer weiter hinter sich zurück lassend.

Wir haben kein Wasser mehr, wir haben ein volles Klo, wir haben keinen Schlafplatz, es ist fast acht, wir haben noch nicht zu Abend gegessen und beide Kinder weinen ohrenbetäubend. Alles, weil ich das Geld für den Campingplatz sparen wollte. Da erscheint aus dem Nichts ein Picknickplatz mit einer Trinkwasserquelle, genug Platz zum Halten. Ein hölzerner Biber mit einem Kupferrohr im gespitzten Mäulchen, aus dem das Wasser sprudelt. Die Kinder weinen immer noch. Ich schlage einen Mist vor, erstens damit das Geschrei aufhört, und zweitens weil ich ein schlechtes Gewissen habe, dass die Kinder heute wieder so viel im Auto sitzen mussten. Und zwar: Dass wir jetzt essen, Wasser auffüllen, Klo ausleeren, und wenn alles fertig ist, fahren wir nochmal zum Rummel.

Es ist dunkel, als wir auf der Wiese am Dorfrand parken, neben den anderen Rummelplatzbesucherautos. Toni hüpft vor Vorfreude. Hat sich selbst angezogen und Peppi dabei geholfen, weil sie selbst so dringend los wollte. Beide wollen querfeldein über die Wiese, auf direktem Weg dorthin, wo Lichter und Bässe wummern, aber wir wollen den normalen Weg durchs Dorf nehmen, wer weiß, ob da ein Zaun kommt.

Es gibt kein Karussell. Nur eine hüpfburgartige rosa Riesenrutsche. Und lauter teuren Mist: Die Vitrinen mit billigen Stofftieren, die sich niemals mit den metallenen Greifarmen in den Trichter bugsieren lassen. Plastikentchen angeln für fünf Euro, Glücksspielautomaten. Toni fragt die ganze Zeit: „Wo kann ich bezahlen?“ Sie will unbedingt das Geld ausgeben, das sie in dem Portemonnaie von der Omi quer über der Schulter trägt. Also, fünfmal rutschen für drei Euro. Aber danach ist sie traurig, weil sie ein Stofftier haben will. Ich versuche erfolglos, das verrückte Konzept von Gewinnspielen zu erklären: Dass man die Stofftiere nicht kaufen, sondern nur gewinnen kann, dass man also Geld dafür bezahlt, dass man vielleicht ein Stofftier bekommt, höchstwahrscheinlich jedoch nicht. Peppi zerrt mich zu den Plastikentchen, zerrt so fest, dass ihre Hand aus meiner rutscht und sie der Länge nach hinfällt. Mit einer Tüte heißer, teigiger Churros für fünf Euro fliehen wir vom Rummelplatz. Zurück zur Biberquelle.

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