Imsouane, Camping Ocean Point Maroc

Wir müssen auf den Campingplatz umziehen, haben seit vier Tagen nicht geduscht. Ich folge dem Parkwächter zum Bezahlen, er erlässt uns eine Nacht für einen Stapel Babykleidung, stapft dann greinend zum fliegenumschwärmten Bretterverschlag der Welpen, zieht einen hervor, der hat sich schon platt gelegen. Der Parkwächter hält das Hündchen anklagend hoch: „Das war das Große. Das wollte ich für mich.“ Er steigt die Schlucht zum Strand ein paar Schritte hinab, schleudert den toten Welpen ins Gebüsch. Er fischt einen weiteren aus dem Verschlag, genauso tot, wirft ihn seinem Bruder nach. Das Bild der toten Hündchen, die in hohem Bogen durch die Luft fliegen, flirrt noch lange vor meinem inneren Auge.

Dem Parkwächter stehen Tränen in den Augen. Er sagt, jemand habe sie vergiftet. Ich glaube eher, die Mutter war nicht oft genug da. Oder hatte nicht genug Milch. Das Fleisch, das ihnen der Parkwächter hingestellt hat, stand den ganzen Tag in der Sonne, von Fliegen umschwärmt. Es gibt mehr Gründe für die Hündchen zu sterben, als zu überleben.

Auf dem Campingplatz ist ein weiterer Wurf Hunde. Die Tierchen sehen etwas gesünder aus, sie stapfen auf ihren großen Pfötchen unternehmungslustig herum. Die Mutter liegt bei ihnen im Schatten und lässt die Kleinen geduldig trinken. Die Hündchen sind schon mal gut, noch besser ist das deutsche Kind, dessen Familie gleichzeitig mit uns eintrifft. Sati, 6, zeigt Toni, wie man die Hündchen herumschleppen kann. Natürlich haben sie Flöhe, was sonst noch in ihrem Fell kreucht und fleucht, wollen wir gar nicht wissen. Sati und Toni macht das nichts aus, sie spielen den ganzen Nachmittag mit den Welpen.

Ein Auto biegt um die Ecke, der Mann hält an, auf seinem Schoß sein kleiner Sohn. Ich starre ihn an, weil ich mir einbilde, dass es einer der Engländer ist, die wir an Weihnachten hier kennen gelernt haben. Wir werden Ostern am selben Ort feiern wie Weihnachten, ein kurioser, schöner Zufall. Der Mann zeigt seinem Sohn die Welpen, die ums Auto herumtollen. Ich bin sprungbereit, beobachte, wie das kleinste der Hundebabys, das hellbraune, das Toni vorhin lange geherzt hat, aufs Auto zuwackelt. Take care, Puppies, liegt mir auf der Zunge, aber ich sage dann doch nichts, der Mann sieht ja, was Sache ist. Das kleine hellbraune biegt ab, dackelt wieder hinter seine Mama, ist in Sicherheit. Ich wende mich ab. In dem Moment fährt das Auto an, und etwas jault erbärmlich auf. Ich sehe noch, wie der rechte Hinterreifen über den Unterleib eines der schwarzen Welpen rollt. Er ist nicht tot, er schleppt sich jaulend ein paar Schritte weiter, die Hinterbeinchen schleifen im Staub. Der Mann steigt aus, sagt: „Oh my god, I am so sorry.“ Ich laufe ein paar Schritte auf die Unglücksstelle zu, mache dann kehrt, hilflos und geschockt. Kann nur denken scheiße, scheiße, scheiße. Der Mann trägt das Hündchen zum Wasserhahn. Ich höre ihn sagen: „I can’t do anything about it.“ Er steigt in sein Auto und fährt weg. Wir haben das Unglück gesehen, die Kinder haben es gesehen, Satis Vater ruft sie zu sich, er hat es offenbar auch gesehen. Toni heult erst jetzt auf, stand die letzten zwei Minuten wohl auch unter Schock, läuft jetzt weinend zu mir, wirft sich in meine Arme. Volker sagt, dass er guckt, ob man irgendwas machen kann. „Kann man noch irgendwas machen?“ schluchzt Toni. Volker, Satis Vater und der junge Campingplatzmensch stehen um das verletzte Hündchen herum. Der Campingplatzmensch treibt die anderen kleinen Hunde zurück auf ihr Plätzchen im Schatten der Mauer, die Mutter ist da, er trägt das verletzte Kleine zu den anderen. „Ich höre es winseln“, schluchzt Toni. Wir hören es auch. „Vielleicht müssen wir umziehen“, sagt Volker leise.

Am nächsten Morgen zieht Volker das tote Hündchen unter den anderen hervor. Wenigstens ist es zwischen seinen Geschwistern gestorben. Vielleicht haben sich die Überlebenschancen der anderen dadurch erhöht. Die Mutter ist sehr dünn, ihre Zitzies schlackern schlaff an ihrem Leib.

Toni fragt nicht, was mit dem verletzten Hündchen passiert ist. Ich höre, wie Sati es ihr erzählt: „Dein Vater hat es begraben. Es ist jetzt im Himmel und hat ein besseres Leben.“ Tage später wird Toni mir erzählen, dass es im Himmel mit anderen Welpen spielt.

Wie Toni es vorhergesehen hat, findet uns der Osterhase, obwohl wir am Ende der Welt in Marokko sind. Er hat sogar zwei rosa Puppen-Buggies hergeschleppt, Toni hat sich so ein Plastikding schon ihr halbes Leben gewünscht.

Seit wir Sati gefunden haben, merken wir, wie einfach unser Leben wäre, wenn wir mehr mit deutschen Kindern zu tun hätten. Die beiden spielen Stunden über Stunden, am Strand, dann wieder mit den Hundebabys, und beide unterhalten sich die ganze Zeit. Sati ist ein Volltreffer, sechs Jahre alt, hat Spaß daran, Toni alles über Hunde und die ganze Welt zu erklären. Toni ist eine dankbare Zuhörerin und saugt alles in sich auf. „Gut, dass ich eine neue Freundin habe, die sich so gut mit Hunden auskennt“, sagt sie.

Ich sitze mit Volker spätabends im Düdo, wir haben eine Flasche Weißwein getrunken und arbeiten am Blog. Da klopft es, wir kriegen einen Schreck. Es ist eine Marokkanerin, die uns eine Tajine hereinreicht. Ich glaube erst an ein Missverständnis, aber sie meint es ernst. Sie gehört zu den Leuten, die nebenan zelten und auf einem Feuerchen Tajines gemacht haben. Sie haben wohl gesehen, dass bei uns noch Licht brennt. Da haben sie offenbar für uns eine mit gemacht, wie unfassbar nett ist das denn. Wir kennen sie überhaupt nicht! Es ist die beste Tajine, die wir bisher gegessen haben.

Dem kleinsten Hündchen, dem hellbraunen, geht es gar nicht gut. Es scheint geschrumpft zu sein, liegt mitten auf der Straße auf der Seite und atmet schwer. Es leckt nicht mal mehr die Butter, die ich ihm hinhalte. Ich trage es zu den anderen zurück in den Schatten.

Halte es nicht aus, unserem Tagwerk zu folgen, während ich weiß, dass wenige Meter von uns ein Hundebaby stirbt. Wir hatten jetzt genug tote Hundebabys! Ich weiß, dass es unvernünftig ist, weil wir es nicht werden behalten können, aber ich hole das Kleine in den Düdo und flöße ihm mit einem Fläschchen warme Milch ein. Es liegt auf meinem Schoß, ich hülle es in eine Stoffwindel und hoffe, dass es seine Flöhe vollzählig behält. Einen fange ich und versuche, ihn zwischen Daumen und Zeigefinger zu zerquetschen, aber die Dinger sind unfassbar robust. Als ich den Daumen wegnehme, hüpft der Floh, offenbar unversehrt, von meinem Zeigefinger.

Als ich dem Hündchen zu viel Milch auf einmal gebe, kotzt es alles wieder aus. Man muss tröpfchenweise vorgehen. Als ich ihm ein Fläschchen voll eingeflößt habe, lege ich es wieder zu seinen Geschwistern. Hoffe, dass ich sein Leiden mit meiner Intervention nicht verlängert habe. Meine Hoffnung war, dass es die Kurve kriegt, wenn ich es in dieser kritischen Phase unterstütze. Danach sieht es leider nicht aus. Es hat nicht angefangen, wieder von selbst zu trinken, sondern musste zu jedem Schluck mehr oder minder gezwungen werden. Kurioserweise hat es trotzdem genug Kraft, sich immer wieder aufzurappeln und ein paar Schritte zu taumeln. Den ganzen Tag über trage ich es immer wieder zu seinen Geschwistern oder zu seiner Mutter, wenn die gerade da ist. Ich will nicht, dass es alleine stirbt.

Ich habe größte Hochachtung vor der Mutter, die selbst so mager und krank aussieht und sich trotzdem so zuverlässig um ihre Kleinen kümmert. Wir geben der Mutter Haut und Innereien von unserem Hähnchen. Wenn die Mutter sterben würde, das wäre der sichere Tod für alle Welpen.

Abends atmet das Hündchen immer noch.

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