Lago di Lugano – Chivasso

Ich spüle auf der Bank aus Metallstangen am Parkplatz am See, auf dem wir übernachtet haben. Blesshühner und ein Schwan lungern in Ufernähe herum, hoffen wohl, dass ich Brotbrocken schmeiße. Die silbernen Streben sind perfekt, um das Geschirr abtropfen zu lassen. Dreckwasser kommt in den Gulli, kann keiner was sagen. Leute fahren in ihren glänzenden SUVs vor, um ihren Müll in die Recycling-Tonnen zu schmeißen, gucken verstohlen rüber.

Von Anfang an hat der Kopfhörereingang an unserem MP3-Lautsprecher, den wir uns zu Nikolaus 2016 in Málaga gekauft hatten, nicht funktioniert, während der Fahrt hört Toni also über Kopfhörer und Handy, oder, wenn beide wach sind wie heute, hören sie laut. Sie hören „Oh, wie schön ist Panama“. Als der Bär und der Tiger in Panama ankommen, also wieder daheim sind, kommen mir die Tränen. Wie lang waren sie wohl weg? Das Haus ist verfallen und die Bäume und Sträucher sind gewachsen. Nun ja. Aber ist es glaubhaft, dass sie ihr Zuhause wirklich nicht wiedererkennen, selbst wenn ihre Reise ein, zwei Jahre gedauert haben sollte, eine extrem großzügige Schätzung? Viel plausibler ist doch, dass sie sich gegenseitig etwas vormachen, um sich nicht eingestehen zu müssen, dass ihre Suche nach „Panama“ gescheitert ist. Verzweifelt klammern sie sich an ihre Lebenslüge. In Wirklichkeit wissen beide ganz genau, wo sie sind, und die Fröhlichkeit am Ende („Budenzauber“) ist eine einzige Farce.

Auf der Gegenfahrbahn staut sich der Verkehr rein in die Alpen. Blechkolonnen so weit das Auge reicht, Rückreisezeit. Die Leute stehen neben ihren Autos. Wir hingegen lassen die Alpen hinter uns. Obwohl wir nach Osten wollen, führen uns beide Navis über Milano. Wollen uns also erst 100 Kilometer nach Süden schicken, und dann nach Osten. Wir versuchen die Navis zu überlisten, indem wir Bérgamo eingeben. Die Straße nach Bérgamo ist gesperrt. Also doch Milano. Aber erst einkaufen, Lidl-Parkplatz. Volker geht, ich habe Supermärkte satt.

Wir hatten uns vorgestellt, erst einmal in Italien, sei es nicht mehr weit zu Thiago. Ein großer Irrtum. Es sind 500 Kilometer. In den Bergen vom Rainbow weiterhin Gewitter angekündigt. Der Plan, dass wir doch alleine abenteuermäßig hinwandern, mit Rucksack, Zelt und Proviant sechs Stunden Fußmarsch auf die Berge, wird an Ort und Stelle, auf dem Lidl-Parkplatz, beerdigt. 500 Kilometer nach Osten, um ein Kind zu besuchen, nur um danach die selben 500 Kilometer wieder zurück zu fahren erscheint uns absurd. Denn weiter in den Balkan, was logisch wäre, können wir aus Zeitgründen nicht. Nicht, wenn ich Mitte September den Workshop bei Montpellier machen will.

Aber wo sollen wir statt dessen hin? Alles ist so verkehrt, so verfahren, so vertrackt. Die Kinder können nichts dafür. Ich bemühe mich, sehr nett zu sein, damit sie nicht auch noch durchdrehen. Ich trickse Brokkoli in die Mäulchen. Es erfordert immer mehr Aufwand. Wir sollten eine Brokkoli-Pause machen. Aber dieser muss noch weg, wird schon gelb. Volker isst die Reste von der Linsensuppe, dann noch Brote für alle, das Mittagessen zieht sich wie holziger Spargel. Die italienische Sonne knallt aufs Düdodach.

Als wir aufbrechen, ist es fast vier, wir haben drei Stunden auf dem Lidl-Parkplatz verbracht. Wo sollen wir hin? Wir haben keine Alternative, wir folgen dem Navi Richtung Thiago. Linkerhand eine riesige Fläche voller Autos dicht an dicht, wahrscheinlich ein Zwischenlager für Neuwagen oder was auch immer. Das Blech funkelt in der Sonne. Ich bitte Volker anzuhalten. Was wir machen, ist verrückt. Siehe oben. Wir suchen jetzt einfach irgend eine Stelle zum Anhalten. Wir müssen uns sortieren.

Richtung Malpensa, wehe dem, der Schlechtes dabei denkt. Rechts geht es steil in ein Gewerbegebiet hinunter, Volker will, dass ich aussteige, aber seit wir die Anhängerkupplung abgeschraubt haben, sind derlei Gefälle für den Düdo kein Problem mehr. Große Gebäude mit einem roten Corporate Design, sieht aus wie Feuerwehr, ist es aber nicht, wir passen hier ganz gut hin. Weit und breit kein Mensch. Wir halten im Schatten vor einem blauen Garagentor, machen Toni ein neues Hörspiel an, setzen uns selbst auf den Boden vor das Garagentor.

Sortieren: Wir wollten nur noch wo hin, wo es Kinder gibt. Wir haben auf Workaway nach Gemeinschaften gesucht, in denen es Kinder gibt, und die wir besuchen könnten. Wir haben keine gefunden. Eine war in Deutschland und wäre teuer gewesen. Veganer. In Deutschland ist schlechtes Wetter, wir wollten weg. Wir wollten aufs Rainbow, und bei der Gelegenheit Thiago besuchen. Wir können nicht aufs Rainbow wegen gefährlichem Wetter. Wir wollen nicht einfach irgendwo hin fahren, wo wir gerne mal hin möchten (Slowenien, Kroatien, Montenegro, Rumänien), weil Toni nicht mehr reisen will. Sie sagt es jeden Tag. Ganz abgesehen davon, dass wir uns nicht dauerhaft über die Meinung eines Viertels der Familie hinwegsetzen wollen - wenn es Toni nicht gut geht, geht es keinem von uns gut. Tonis schlechte Laune ist ansteckender als Ebola. Ich rolle Zigarettenstummel mit dem nackten Fuß hin und her, bis sich das Papier löst und die filzige Rolle zerfleddert.
    
Toni kommt raus, sie will das neue Hörspiel nicht hören. Der kleine Drache Kokosnuss geht in die Schule. Wahrscheinlich zu unheimlich. Ich mache ihr Conni an. Affirmativer Realismus, genau was wir jetzt brauchen. Wir sitzen auf der Straße in einem Gewerbegebiet in einer dichtbesiedelten Gegend Norditaliens, in die wir quasi aus Versehen geraten sind. Bald wacht Peppi auf. Wir haben keinen blassen Schimmer wo wir hin sollen.

Kurioserweise tritt an diesem Tag, dem bisherigen Tiefpunkt der Reise, genau das ein, dem ich hinterherjage seit wir unterwegs sind: Ich bin im Moment. Alles ist so schrecklich, dass mir nichts anderes übrig bleibt, als mich an die Gegenwart zu halten. Wir wissen schlicht nicht, wo wir in einer halben Stunde sein werden, in einem Tag oder in einer Woche, also kann ich meinen Blick auch nicht darauf richten. Dazu die Angst, dass alles zusammenbricht, wenn jetzt auch noch die Kinder durchdrehen. Endlich gebe ich mir mal Mühe, wirklich, wirklich nett zu ihnen zu sein. Schließlich haben wir sie in diese Lage gebracht. Angesichts der Umstände halten wir uns alle ganz gut.

Peppi schläft noch, wir wollen die Zeit bis sie aufwacht nutzen, um einen Spielplatz zu suchen, die Kinder haben heute nur im Auto gesessen. Ich bestehe darauf, nicht einfach rumzugurken, sondern wenigstens in Richtung Turin zu gurken, also nach Westen, denn wir haben uns für Frankreich entschieden, wenn man in unserem Zustand überhaupt von Entscheidungen sprechen kann. Also nochmal über die Alpen. Alpes de Haute Provence, da wollte ich schon immer hin. Ohne an einem Spielplatz vorbeigekommen zu sein, sind wir plötzlich auf der Autobahn, Peppi schläft immer noch, es ist fast sechs, Volker will, dass ich sie aufwecke, ich halte das für Selbstmord.

Volker findet uns einen vermüllten aber guten Platz an einem wahnsinnig schnell fließenden Kanal. Eine Rampe führt uns Wasser, wahrscheinlich eine Einlass-Stelle für Kanus. Das Wasser ist überraschend warm, ansonsten aber unverdächtig, klar. Flinke Fischchen flitzen im Wasser, und auf der Oberfläche flitzen die Wasserläufer. Mit Schwimmflügeln und an den Händen halten dürfen die Kinder ins Wasser, sie wollen eh nicht weiter als bis zum Bauchnabel. Draußen kochen wir die Maiskolben, die in ihrem Plastik schon etwas vergoren duften, drinnen Nudeln mit Pilzsauce. Toni ist seit langer Zeit mal wieder das Hilfskätzchen und zerkleinert einen riesigen, braunen Champignon. 

Ich hole mir die Flasche Bier aus dem Kühlschrank, ein Wicküler, das wir seit Sachsen spazieren fahren. Aber erst seit Böblingen ist es kalt, denn dort hat Volkers Vater uns den Kühlschrank angeschlossen, den wir seinerseits bis dahin nutzlos durch ganz Deutschland spazieren gefahren hatten. Wir wollten ihn selber mit der Batterie verbinden, haben im Baumarkt aber nicht das passende Zubehör gekriegt und den Plan dann fallen gelassen, wissend, dass uns in Böblingen geholfen würde. Und in der Tat, so professionell hätten wir es niemals hin gekriegt. Volkers Vater hat uns sogar einen idiotensicheren Atomschalter montiert, mit dem wir das Ding mit einem Klack vom Netz nehmen können.

Als es dunkel wird, brechen wir auf. Toni sagt zu Volker, dass es ein schöner Tag war.

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