Seyne – Barras

Die Kinder fiebern darauf hin, dass der Pool endlich aufmacht, wir behaupten um neun. Es stellt sich heraus, dass das nicht stimmt, er öffnet erst um zehn. Noch eine Stunde warten, fürchterlich, Groll gegen den teuren Campingplatz. Im Wifi-Bereich bei der Rezeption gibt es keine Steckdose, all unsere Geräte sind leer, und obwohl die Sonne auf die Solarplatte scheint, piepst der Stromwandler. Wahrscheinlich ist der Einfallswinkel noch zu flach.

Siebeneinhalb Wochen in Deutschland, und wir haben es nicht geschafft, die To-Buy-Liste vollständig abzuarbeiten. Haben keine größere Batterie gekauft. Dabei wussten wir, dass wir sie brauchen. Nicht nur wegen dem Kühlschrank. Schon ohne Kühlschrank hat die Kapazität einfach nicht gereicht. Jetzt erst recht nicht mehr. Jetzt darauf warten, dass die Sonne höher steigt, damit wir unsere Laptops laden können? Wenn die Sonne höher steigt, wandert der Schatten des Baumes neben unserer Parzelle auf unsere Solarplatte.

Schon gestern war es uns zu voll hier, zu laut, überall Leute, an den Spülbecken dicht an dicht mit fremden Holländern. Holländer, Dänen, Franzosen, aber kein einziges deutschsprachiges Kind für Toni. Abends bis spät die Rufe spielender Kinder in der Luft, so dass unsere nicht einschlafen wollten, damit unseren Plan durchkreuzten, uns endlich zusammen zu setzen, über die Zukunft zu sprechen, ernsthaft, konzentriert.

Heute sollte ein Bürotag werden, Mails schreiben, die gestern begonnene Internetrecherche fortsetzen. Ohne Laptop schwierig. Was machen wir hier eigentlich? Der Koller, schlimmer denn je. Wir beschließen, vom Campingplatz zu fliehen, statt noch eine Nacht zu bleiben, wie geplant.

Auch fünf nach zehn stochert der Poolreiniger noch mit seinem Kescher im Becken, vor dem Eingang die Kette aus roten und weißen Plastikgliedern. Um zwölf nach steigen wir endlich die Holztreppe hoch, ich mit der zerkratzten Sonnenbrille vor den verheulten Augen (neue Gläser, auch nicht erledigt, während wir in Deutschland waren, genauso wenig wie neue Birkenstocks für mich, obwohl auf der Rosenthaler Straße tausendmal dran vorbei gelaufen, war aber nie „in Stimmung“, ich Mimose, jetzt kann ich darauf warten, dass die Wracks mir von den Füßen fallen).

Toni springt wie ein Derwisch durch den Pool, macht verrückte Verrenkungen unter Wasser, die manchmal das werden, was sie sollen, nämlich Vorwärts- oder Rückwärtspurzelbäume. Ohne Schwimmflügel macht sie jetzt zwei Schwimmzüge unter Wasser, taucht dann spuckend und hustend auf, und fragt mich, ob ich es gesehen hätte. Sie bringt sich tatsächlich selbst Schwimmen bei. Trotz aller Sorge kann ich nicht umhin, unsere Kinder etwas vitaler zu finden als die institutionsgeprägten Sprösslinge der urlaubenden Mittelstandsfamilien um uns herum.

Gestern war ich auf lauter Blogs von „Reisefamilien“, also von Leuten, die wie wir mit ihren Kindern durch die Welt ziehen. Wir suchen ja Kontakt, brauchen andere Familien, Treffpunkte, Tipps. Im Internet findet man natürlich nur die, die sich im Internet präsentieren. Trotzdem kriegt man den Eindruck, dass jede Familie, die so was ähnliches macht wie wir, darüber bloggt. Wir ja auch. Leider stößt uns das, was wir online so finden, ziemlich ab. Alle stellen ihren Lebensstil als nachahmenswert und mutig dar, alle bieten Coachings an, auf dass die Normalbevölkerung „inspiriert“ werde von der Freiheit und Naturverbundenheit dieser Pioniere für ein besseres Leben.

„Willst Du auch so frei leben wie die „Roadfamily“?“ Kostenpflichtige Online-Tutorials oder E-Books zum Thema „Wie wir unser Reiseleben finanzieren.“ Ich muss das E-Book nicht lesen, um zu wissen, was drin steht: Indem sie E-Books und Online-Tutorials verkaufen, zum Thema „Wie wir unser Reiseleben finanzieren“, das liegt doch auf der Hand. Vielleicht sind die Leute im echten Leben ganz nett, und nur ihre Blogs sind schrecklich. Sie probieren halt verzweifelt, irgendwie Geld mit ihrem Lebensmodell zu verdienen. Und trotzdem: Ich teile einfach nicht die Gewissheit, mit der sie sich als Vorbild präsentieren.

Auch ich bin nicht frei von Überheblichkeit, wenn ich über die bleichen, gekämmten Familien am Pool lästere. Erstens denke ich aber nicht, dass es diese Familien selig machen würde, ihr Hab und Gut zu verscherbeln, ihre Wohnungen zu kündigen und in einen roten Düdo zu ziehen. Es hat ja nicht mal uns selbst selig gemacht. Und zweitens liegt meinem Lästern ein leiser Neid zugrunde. Sie sind vielleicht ganz glücklich mit ihrem Alltag, genießen den Urlaub, lesen, wandern, spielen Federball, und ihre Kinder wissen höchstwahrscheinlich etwas besser als unsere, woran sie sind.

Ob diese Kinder oder unsere später mehr Traumata von ihrer Erziehung davon getragen haben werden – wer will das schon wissen. Das heißt nicht, dass ich tauschen möchte. Wir waren bisher nicht in der Lage, in einem Leben wie es die meisten führen, glücklich zu werden. Das muss kein Defizit unsererseits sein, es ist aber auch kein Verdienst.

Toni weint fast, als wir sie vom Pool weg eisen, um den Campingplatz pünktlich um zwölf zu verlassen. Wieder das schlechte Gewissen: Was machen wir hier eigentlich? Kaum sind wir ein paar Meter gefahren, geht es mir besser. Das heimelige Brummen des Motors, die Bewegung vor dem Fenster, losfahren tut einfach immer gut. Leider mögen Toni und wir Erwachsenen komplett gegensätzliche Sachen. Toni mag Campingplätze, wir mögen Natur. Immer wenn ich mit einem Blick auf die Karte sage: „Jetzt runter von der großen Straße und ab in die Pampa“ schreit Toni: „Nicht in die Pampa!“ Toni sagt, sie mag es, wenn es „belebt“ ist. In der Natur ist es ihr „zu leer“. Wir machen ständig lauter Sachen, die sie nicht mag.

Ohne es geplant zu haben, verlassen wir die Berge und geraten in die Provence. Die Straße führt bergab, wir haben keine Wahl, es sei denn wir würden wenden. Aber wir wollten ja in die Provence, prinzipiell. Ich war in meinem Leben schon öfters in dieser Gegend, noch nie habe ich violett blühende Lavendelfelder gesehen. Ich kündige an, dass es diesmal endlich so weit sein wird. Wir kommen an einem Feld mit erntereifen Sonnenblumen vorbei, sie sind eher grau als gelb, ihre Köpfe zeigen zur Erde. Und dann: Die charakteristischen Reihen mit den büscheligen Lavendelpflanzen, alle mit Igelfrisur, alle schon abgeerntet, ich habe die Lavendelblüte wieder verpasst. Trage diesen neuerlichen Schlag des Schicksals mit Fassung.

Der weiße Transporter, vor dessen Motorengeräusch Peppi schreiend zu mir getrappelt ist, hält hinter uns, statt an uns vorbei zu fahren. Eine junge, tätowierte Frau mit langen, blonden Haaren steigt aus. Der Weg sei privé, wir dürften hier nicht sein, da vorne stehe das entsprechende Schild. Ich ziehe das France-Passion-Kärtchen aus der Tasche, sie zeigt in Richtung Ziegenstall: Dort sei unser Platz, hier nicht, der Weg sei privé, da vorne stehe das entsprechende Schild. Ich entschuldige mich, sage, dass die Kinder die Esel sehen wollten. Trotzdem, sagt die Frau, die Esel seien wild, wenn sich jemand verletze, sei sie in der Bredouille.

Erst jetzt verstehe ich, dass die Frau unsere Gastgeberin ist. Ich frage sie, ob wir Ziegeneis kaufen können, neben Käse laut France-Passion-Führer das Produkt dieses Hofes. Selbstverständlich, sagt sie, aber erst nachher, erst müsse sie eine Katze zum Tierarzt bringen. Auf der Beifahrerbank des weißen Transporters sitzen zwei junge Leute, die Frau hält einen Katzentransportkäfig auf dem Schoß.

Alles ist voller Fliegen, der Ziegenstall, ein Zelt in Form einer dicken grünen Raupe, ist direkt nebenan. Ein paar Schweine gibt es auch. Wir schließen alle Türen und Fenster des Düdos, außer denen mit Fliegengitter, und richten ein fürchterliches Gemetzel mit der Fliegenklatsche an.

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