Sidi Ifni, Camping Sidi Ifni

Wir arbeiten mit Hochdruck am Blog. Die ersten Tage kriegt Volker, verbringt Stunden im „Internetcafé“, also der nach kaltem Aschenbecher stinkenden Steinhöhle, in der das Modem hängt. Die Möblierung erinnert an ein Bahnhofs-Warte-Häuschen. Abends besprechen wir seine Entwürfe, die Piktogramme, den Aufbau der Seite. Wir müssen aus mehreren Gigabyte Fotos ein paar Hundert aussuchen, wir müssten 70 Seiten Text kürzen und redigieren. Außerdem fehlt noch alles seit Grenzübertritt, also muss ein knapper Monat Tagebuch nachgetragen werden.

Wir entscheiden, Besuchszeiten zusammenzufassen, nicht tageweise aufzuschlüsseln, so wie Campingplatzzeiten und Workawayzeiten auch, es ist einfach zu wenig Zeit zum Schreiben, wenn wir workawayen oder Besuch da ist. Außerdem kann ich Indiskretionen über uns selbst verantworten, nicht aber über Freunde oder Gastgeber. Zensieren möchte ich mich aber auch nicht, dann lieber gar nicht.

 Nach einer knappen Woche auf dem Campingplatz beginnen wie immer die Sinnfragen: Warum sind wir eigentlich nochmal hier? Was war nochmal das Ziel dieser Reise? Doch nicht, auf einem asphaltierten, ummauerten Platz neben Rentnermobilen zu versauern? Schon klar, wir sind hier, weil wir das Blog endlich an den Start bringen wollen, und es hier schnelles Internet gibt. Trotzdem: Die Aufgabe hat etwas Groteskes in ihrer Selbstreferentialität. Wir können die Reise nicht fortsetzen, weil wir Reisetagebuch führen wollen.

Ich recherchiere, mehr aus Versehen, mein Lehrerinnen-Thema an. Frage nämlich Najma, die ältere Französin mit den langen blonden Haaren, mit der ich an einem der ersten Tage am Strand ins Gespräch gekommen bin, als ich sie eine Woche später wiedertreffe, ob sie eine Lehrerin kennt. Sie wohnt nämlich hier. Ja, aber an einer Privatschule. Nicht das, was ich suche, aber ein Anfang. Sie will sie fragen, ob sie bereit ist, sich mit mir zu treffen. (Ich kann mir Najmas Namen immer nicht merken, sie sagt mir eine Eselsbrücke: „Neige“, wie der Schnee, und dann „Ma“. Heißt „Stern“ auf arabisch, und ist der Name, den sie sich hier selbst gegeben hat.)

Die Einheimischen schleppen säckeweise Miesmuscheln über den Strand.

Als ich probiere, wie vereinbart bei Najma anzurufen, stelle ich fest, dass mein Guthaben abgelaufen ist. Ich muss also in die Stadt. Erledige gleich noch weitere Einkäufe. Spontan kaufe ich zwei komplette Tintenfische, einen großen und einen kleinen. Als ich Najma endlich anrufe, sagt sie, dass sie eben mit Volker gesprochen hat, und in einer halben Stunde mit Sumia, besagter Lehrerin, zum Düdo kommt. Sie hat sich also zu Fuß zu uns aufgemacht, um uns die Botschaft zu übermitteln, weil ich Hirschin sie anders als versprochen nicht sofort angerufen habe und sie also meine Nummer nicht hatte.

Volker hat gottseidank den Düdo aufgeräumt, der Pulpo kommt erst mal in die Kühlbox. Dann sind beide da, und so gibt Eins das Andere. Sumia unterrichtet in einem gemeinnützigen Zentrum Vorschulkinder. Vormittags drei Stunden, nachmittags zwei Stunden. Reportagemäßig hilft mir das nicht weiter.

Sumia schreibt mir aber den Namen einer Frau auf, auf französisch und arabisch, Habiba Jamoum, und beschreibt mir, wo sich in etwa die Schreinerei ihres Mannes befinde, dort solle ich nach ihr fragen. Sie schreibt mir noch den Namen des Schreiners auf, Ben Driss, damit ich nach der Schreinerei fragen kann. Habiba Jamoum ist offenbar so was wie die Frauenbeauftragte von Sidi Ifni. Sie leitet eine Association für Frauenrechte. Perfekt. Wenn mir in Sidi Ifni jemand helfen könne, dann sie.

Sumia hilft mir noch, den Pulpo auszunehmen, also sie macht es für mich. Und zeigt mir, wie ich ihn gegen einen Stein hauen soll, damit er weich wird: „Faut tapper fort!“ Ich bin begeistert, hätte allein niemals gewusst, was ich mit dem Tier veranstalten soll. Seine Saugnäpfe saugen noch! In Ermangelung eines großen Steins, und weil ich ihn nicht gegen die Campingplatzmauer hauen will, weil die abfärbt, schmettere ich ihn auf unsere umgedrehte Emaille-Schüssel. Offenbar nicht fest genug, denn leider nimmt er beim Anbraten die einweckglasgummiartige Konsistenz an, wie ich sie von Tintenfischen kenne. Toni und Peppi spucken ihn wieder aus.

Am nächsten Tag mache ich mich mit dem Zettel in der Hand auf den Weg. Schnell finde ich besagte Schreinerei, die sich als Mini-Baumarkt herausstellt. Bisher macht mir die Recherche Spaß. Ben Driss sagt, dass es nicht möglich sei, mit seiner Frau zu sprechen. Sie spreche nämlich kein Französisch. Er geht dann trotzdem mit mir über die Straße, zu seinem Wohnhaus, und guckt ob sie zu Hause ist. Ist sie nicht. Er schließt seinen Laden ab und lädt mich ein, in seinem Auto Platz zu nehmen. Wir fahren zur Association. Ich probiere, mir den Weg halbwegs zu merken, muss ja auch wieder zurück. Ist zum Glück nicht weit. Sidi Ifni ist klein.

Habiba Jamoum ist „La Présidente“, die Chefin der Association. Ihre Assistentin, jung, mit schwarzem Kopftuch und figurbetontem roten Mantel, begrüßt mich förmlich, sagt, die Präsidentin sei bereit, auf all meine Fragen zu antworten. Ich will ja eigentlich gar kein Interview führen, sondern habe eigentlich nur eine Frage: Ob sie eine Lehrerin kennt, die sich für Frauenrechte engagiert, und die bestrebt ist, ihren Schülerinnen und Schülern die Idee der Gleichberechtigung von Mann und Frau nahe zu bringen, die in Marokko seit fünf Jahren gesetzlich verankert ist. Muss aber natürlich irgendwie allgemeiner einleiten wer ich bin und was ich will. Und natürlich interessiere ich mich trotzdem auch ganz grundsätzlich dafür, in was für einer Art von Association ich mich gerade eigentlich befinde, was sie so machen, etc.

Habiba Jamoum sagt, es sei schade, dass ich nicht vormittags schon da gewesen sei, denn da seien LKWs gekommen, um Kleiderspenden abzuholen, die anschließend unter den Armen verteilt würden. Sie zeigt mir auf ihrem Handy Fotos von schwarzen Müllsäcken, in denen sich offenbar die Kleider befinden. Ich würde langsam gerne zu meinem Thema kommen. Die Frau im roten Mantel übersetzt der Präsidentin mein Begehr. Bevor ich noch fertig erklärt habe, was und warum und überhaupt, fängt sie schon an zu telefonieren, nämlich um für mich eine Lehrerin aufzutreiben. Einerseits bin ich begeistert über so viel Effizienz, andererseits wäre ich gerne sicher, dass sie richtig verstanden hat, wen ich suche, und warum.

Ich frage die Frau in Rot, ob sie von meinem Aufhänger gehört hat, also davon, dass das Marokkanische Bildungsministerium die Schulbücher überprüft, um solche mit frauendiskriminierendem Inhalt aus dem Verkehr zu ziehen. Hat sie nicht. Die Präsidentin auch nicht. Hm. Vielleicht war es keine große Meldung. Vielleicht verfolgen die beiden aber auch keine Nachrichten. Who knows.

Ich sage, dass ich ein Interview mit dem Typen aus dem Ministerium gelesen habe, der als Beispiel nennt, dass in vielen Schulbüchern Polygamie als normale Realität dargestellt werde. Die Frau in Rot fragt mich, ob ich Polygamie schlecht finde. Offenbar bin ich in ein Fettnäpfchen getreten. Ich sage, dass das ein Beispiel des Types aus dem Erziehungsministerium war, und ich selbst mir darüber kein Urteil anmaßen möchte.

Die Frau in Rot sagt, dass Männer in Marokko legalerweise vier Frauen ehelichen dürften. „Seulement quatre. Pas plus.“ Er müsse allerdings, da sei das Gesetz sehr streng, alle gleich behandeln. Wenn er einer ein Geschenk mache, müsse er auch den anderen etwas schenken. Auch seine Zeit müsse er gerecht zwischen allen aufteilen. Das sei in der Realität eine große Herausforderung. Grundsätzlich sei die Möglichkeit, mehrere Frauen zu heiraten, aber eine gute Sache. Wenn beispielsweise eine Frau unfruchtbar sei, müsse der Mann sie nicht verlassen, sondern könne eine Zweitfrau nehmen.

Frauen könnten aus zwei Gründen nur einen Mann heiraten. Erstens gebe es sonst eine genetische Konfusion („confusion genetique“), es lasse sich nur mühsam eruieren, von wem welches Kind sei. Zweitens sei die Frau so konstituiert, dass sie ihr Herz nur an einen hängen könne. Männer hingegen seien so voll Liebe („plein de sentiment“), dass es für mehrere Frauen reiche. Ob ich das soweit begriffen habe? Ich sage, dass ich nicht gewusst hätte, dass Polygamie in Marokko legal sei und dies sehr interessant für mich sei. Dass der Typ vom Bildungsministerium dann offenbar ein schlechtes Beispiel gewählt habe, dies jedoch zeige, wie kompliziert die Zusammenhänge seien. Die Frau in Rot sagt, besonders kompliziert sei es eigentlich nicht, ob ich es nicht verstanden hätte? Ich sage, doch.

Ich verbringe mehrere Stunden in der Association, die Präsidentin telefoniert, und irgendwann reicht sie mir das Telefon. Eine Lehrerin sei dran, sie wolle mit mir sprechen. Ich versuche zu erklären, was ich will. Sie sagt, dass ich eine Genehmigung bräuchte. Ich sage, dass ich mich selbstverständlich um alle Genehmigungen bemühen würde, sobald ich eine Protagonistin hätte. Sie fällt mir ins Wort. Ich solle mich ans Ministerium wenden, die würden mir dann jemand raussuchen, mit dem ich sprechen könne. Ich versuche zu erklären, dass ich anders vorgehe, dass ich eben niemanden will, den das Ministerium aussucht, sage, dass ich es am Telefon schwierig finde mein Anliegen zu erklären, ob sie bereit wäre, sich mit mir zu treffen? Sie sagt, dass gerade Examenszeit sei, Ende des Halbjahrs, in zwei Wochen seien Ferien, dann könne sie sich gerne mit mir treffen, vorher nicht. Vorher hätte kein Lehrer im ganzen Land Zeit für mich. Und so weiter.

Die Recherche macht jetzt keinen Spaß mehr, sondern artet in Arbeit aus. Ich möchte das Telefon mit der unwirschen Lehrerin gern wieder loswerden, weiß aber nicht recht wie. Mein Französisch ist nicht so fließend, dass ich jemanden höflich unterbrechen könnte. Irgendwann sage ich einfach plump: „Ich gebe Sie jetzt zurück“ und reiche der Präsidentin wieder das Telefon. Die beiden telefonieren noch geraume Zeit, offenbar erklärt sie der Präsidentin dasselbe, was sie mir erklärt hat. Denn die Präsidentin erklärt es der Frau in Rot, und die Frau in Rot erklärt es mir noch mal. Ich brauche die Genehmigung. Sie würden mich jetzt dahin bringen, wo ich hin müsste. Also heute sei da niemand mehr da, aber dann wüsste ich, wo ich morgen hin muss.

Am nächsten Tag Recherchepause, Volker soll am Blog weitermachen. Eigentlich war das die Baustelle, die Priorität hatte. Die Recherche, wie gesagt, mehr aus Versehen gestartet. Aber mit welchem Ergebnis? Thema halbtot. Erstens: Marokkanische Schulen sind eh Murks, da ist ganz egal, was in den Schulbüchern steht. Zweitens: Marokkanische Frauenrechtlerinnen erklären einem, dass Polygamie prima ist. Die Bilderbuch-Feministin, die ich suche, werde ich höchstwahrscheinlich nicht finden. Drittens: Ist diese Woche fast vorbei, die nächste ist die letzte vor den Ferien. Dann zwei Wochen Ferien, das heißt dass ich frühestens in vier Wochen drehen könnte. Bei der Aussicht noch wochenlang in Marokko zu bleiben, schwimmen Volker alle Felle davon. Viertens: Steht in den Sternen wie lange es dauert, die Genehmigungen zu kriegen.

Sidi Ifni ist eine Sackgasse, in der wir gelandet sind und den Absprung nicht mehr schaffen. Es fühlt sich langsam so an, als würden wir hier wohnen. Die vielen Bekanntschaften. Najma, Sumia, die Präsidentin, die Frau in Rot. Außerdem die marokkanischen Kinder, mit denen Toni spielt, mittlerweile kommen sie von alleine, besuchen uns sogar einmal im Düdo. Sie sind aber nur selten da. Angenehm ist, dass die Marktmenschen mich kennen und begrüßen wie eine alte Bekannte. Der Obstmann, der Hähnchenmann, der Fischverkäufer. Wir haben vier Baustellen: Das Blog, die Reportage, die Reparaturen am Düdo, die Umbauten am Düdo. Außerdem wollen Volkers Eltern uns vielleicht besuchen. Wo? Wann? Wir wissen nur, dass wir in Sidi Ifni sind, sonst nichts.

Wir bearbeiten Baustelle eins, Restdauer unbekannt. Vor zwei Jahren gab es hier eine große Überschwemmung. Seitdem wird Wiederaufbau betrieben, offenbar ziehen sich auch diese Bauarbeiten hin. Zum Beispiel der Kreisverkehr an der Straße zum Campingplatz. Auf der einen Hälfte wird noch gebaut, die andere, restauriert, aber noch roh, verfällt schon wieder. Schotterpiste. Volker sagt, dass sich sein Leben anfühlt wie dieser Kreisverkehr.

Mir fällt die Decke auf den Kopf, das Campingplatz-Universum macht mich fertig. Auf den Stellplatz neben uns zieht ein Portugiese, der nur heiser krächzen kann. Offenbar legt er sich immer mal mit anderen Gästen an, alle paar Tage gibt es großes Gekrächze und Menschenauflauf. An seinem Wohnmobil hängen Vogelkäfige mit bunten Sittichen.

Ein unsympathischer Deutscher lässt sich von einem Marokkaner mit Seifen-Eimer die Aufkleber von seinem Wohnmobil spachteln. Einer klebt noch am Heck: „It’s called Tourist-Season, so why can’t I shoot’em?“

Volker lernt zwei deutsche Familien kennen, Tübinger und Kölner, mit Düdo und Bremer unterwegs, auf dem Campingplatz gegenüber. Nach drei Tagen reisen sie schon weiter, weil Sidi Ifni ihnen zu voll ist. Sie wollen nach Guelmim, 50 Kilometer weiter ins Landesinnere.

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