Taghazout, Camping Terre d’Océan – Piste kurz hinter Taghazout

Am Morgen kaufe ich gleich nochmal drei Seeteufel beim Fischer, die wir uns mittags in einer Parkbucht kurz hinter dem Campingplatz braten. Wir haben wegen der Check-Out-Zeit diesmal gar nicht gefragt, sind aber intuitiv pessimistisch, weil an der Rezeption eine Französin sitzt und kein Laissez-Faire-Marokkaner.

Ich schicke Imad eine Whatsapp-Nachricht mit unserer korrigierten Ankunftszeit. Keine Antwort.

Wir fahren durch Taghazout erst mal nur durch, müssen im nächsten Ort Geld holen und Obst und Gemüse kaufen. Erinnern uns noch vom letzten Mal, dass es Taghazout keinen Geldautomat gibt und es zum Einkaufen auch eher mau aussieht, weil so touristisch. Der nächste Ort ist allerdings genauso schlimm. Erstmals seit Monaten nennt mir ein Obsthändler überteuerte Preise. Zum Glück weiß ich aber, was Äpfel und Orangen hier kosten und kaufe nichts. Auf dem Mittelstreifen stehen Polizisten und pfeifen die ganze Zeit in ihre Trillerpfeifen, weiß Gott warum. Vielleicht ist es diese Geräuschkulisse, die den Ort so stressig macht. Ich kaufe nur das Nötigste, dann kehren wir um, auf zu Katharina.

Karim öffnet uns die Tür, klettert dann vorneweg die Treppen hoch, wir hinterher. Katharina ist nirgends zu sehen. Oben in der halboffenen Lounge des Hostels haut sich Karim auf eines der Sitzpolster und fängt an, auf seinem Handy zu tippen. Ich frage: „Where is Katharina?“ (Hostelsprache ist englisch, nicht französisch.) Karim sagt, dass sie nicht da sei, aber hergebracht werde. Sie habe auf die Dachterrasse des Nachbarn gekackt und Imad habe sie zu ihren – also Imads und Karims – Eltern gebracht.

Ich frage: „Wo ist Imad?“ In Imsouane, sagt Karim. Da sind wir vorgestern dran vorbeigefahren. Neben Karim sitzt das neue europäische Hilfsmädchen. Letztes Mal war es eine Schweizerin, die zufälligerweise auch Katharina hieß. Diesmal ist es eine hübsche, sehr junge Spanierin, deren Namen ich sofort vergesse. Sie ist ein kleines bisschen gesprächiger als Karim und sagt, dass Imad wohl am Dienstag, also übermorgen, zurückkomme. Er sei seit gestern weg. Und Katharina seit etwa einer Woche. Ich frage, wie es Katharina, ihrem Eindruck nach, gegangen sei. Sie sei sehr fett, sagt die Spanierin, abgesehen davon sei es ihr gut gegangen.

Wir bitten Karim, die Organisation von Katharinas Hertransport zu stoppen und uns statt dessen zu seinen Eltern zu begleiten. Wir fragen, wie weit es sei. Eine Stunde, sagt Karim. Eine Stunde hin, eine zurück? Nein, hin und zurück. Wir rechnen also mit mindestens einer halben Stunde Autofahrt und sind überrascht, dass wir schon nach 15 Minuten da sind.

Zuerst sehen wir nur Karims kleine Schwester, eine hellwache 13-jährige, die sich offensichtlich freut, dass mal was passiert. Sie führt uns in einen fensterlosen Kabuff, der unglaublich intensiv nach Waschmittel stinkt. An der Wand steht ein Sofa, und auf der Armlehne dieses Sofas sitzt Katharina. Die Spanierin hatte recht, unsere Katze ist wahnsinnig fett geworden. Katharina starrt stur gerade aus und wendet nicht mal den Kopf, als wir den Kabuff betreten. Mein erster Gedanke: Ist sie hier eingesperrt? Aber die Türen stehen offen, sie könnte wohl raus. Sie rührt sich allerdings nicht vom Fleck, auch nicht, als ich mich neben sie setze und sie streichle. Keine Reaktion. Auf dem Nasenrücken hat sie einen kleinen Eiterpickel. Neben dem Sofa steht offen ein voller Sack Katzenfutter. Das sieht alles überhaupt kein bisschen gut aus. Und wir müssen wohl endlich die Eltern begrüßen.

Der Vater begrüßt uns förmlich, bittet uns an den runden Plastiktisch in der Mitte des großen Hauptraumes, von dem Katharinas Kabuff und offenbar auch die anderen Zimmer abgehen. Das Haus ist ein unfertiger Neubau, Zementsäcke und stapelweise Kacheln stehen herum. Der Hauptraum ist schon komplett gefliest, Boden wie Wände. Licht fällt nur durch die Türen der angrenzenden Zimmer, die offenbar Fenster haben. Auf dem Tisch steht Brot und in kleinen Schüsselchen marokkanische Delikatessen: Honig, Arganöl und Amlou, was eine Mischung aus Mandelmus und Arganöl ist.

Der Vater schenkt uns Tee ein. Ich lobe den Honig, der nochmal fantastischer schmeckt als der von unserem Freund, dem Honigmann. Ich rühme das Amlou als das beste, das wir bisher in Marokko gegessen hätten. Die kleine Schwester bringt auf einem großen Teller frisch frittierte Schmalzkringel. Der Vater bricht von einer Tafel Nuss-Schokolade riesige Stücke für Toni und Peppi ab. Die Mutter rauscht in den Raum wie ein fröhliches schwarzes Gespenst und verbreitet sofort unkonventionelle Herzlichkeit. Sie spielt mit ihrem Schleier Kuckuck mit Peppi und Toni.

Karim hat gesagt, seine Eltern sprächen französisch, keine Ahnung, wie er auf die Idee kommt. Ich versuche herauszufinden, ob Katharina rausgeht. Oder ob sie immer so apathisch dasitzt wie jetzt. Aber obwohl Karim übersetzt, bleibt die Frage offen. Der Vater sagt „ja“, wenn ich frage, ob sie spazieren geht. Aber als ich frage: „Oder hat sie Angst, rauszugehen?“, sagt der Vater auch „ja“.  

Katharina ist inzwischen in einen anderen Raum gehuscht und versteckt sich dort unter dem Bett. Als ich mich vor dem Bett vorsichtig auf den Boden niederlasse und nach Katharina spähe, folgt mir die ganze Familie und ruft „Katharina“, „Katharina“. Die kleine Schwester leuchtet mit der Taschenlampe von ihrem Handy unter das Bett. Ich bin ziemlich verzweifelt.

Die Mutter hat ein halbwüchsiges Küken geholt. Sie setzt es sich auf den Kopf, die Kinder sind entzückt. Toni will, dass es auch auf ihrem Kopf sitzt. Die kleine Schwester macht Fotos mit ihrem Handy. Die Szene ist ein guter Anlass, um zu fragen, ob ich auch selber Fotos machen darf. Wie immer ist es schwierig, Fotos von Menschen zu machen mit unserer Kamera, mit der man alles manuell einstellen muss. Die Leute sind das nicht mehr gewöhnt, dass man lange rumfummelt, bevor man endlich abdrückt.

Die Stimmung im Hof wird immer ausgelassener, die Mutter schöpft mit einem orangenen Plastikgefäß Wasser aus dem Brunnen – ein abgedecktes Loch im Boden – und bespritzt damit ihre Tochter und Toni. Es gibt immer mehr Schokolade. Irgendwann fällt Toni der Länge nach hin und schürft sich beide Handballen auf. Sie weint laut und lange. Die kleine Schwester holt auf Geheiß der Mutter eine Tube, die Mutter schmiert Toni die Schürfwunden ein. Ich versuche, auf das Etikett zu lunsen, ich glaube, es ist Sonnencreme.

Zurück auf unserem Parkplatz in Taghazout sagt der Parkwächter, dass wir nicht über Nacht bleiben könnten, die Polizei würde kommen und Camper wegschicken. Es wird langsam dunkel. Eine junge Touristin kommt an die Scheibe und fragt Volker auf deutsch, ob wir nach Berlin fahren würden, sie würde gern mitkommen. Volker sagt, dass es noch lange dauert, bis wir wieder nach Berlin fahren; dass wir noch Wochen in Marokko bleiben werden und dann noch lange in Portugal sein werden. Karim versucht, uns einen anderen Platz aufzutreiben, lotst uns zu einem anderen Mann in gelber Warnweste, der präsentiert uns einen Parkplatz am Straßenrand, in den wir mit großer Wahrscheinlichkeit nicht reinpassen werden. Er sagt sinngemäß, dass Karim ein guter Kerl sei. Wir nicken und trommeln uns aufs Herz, wollen trotzdem nicht probieren, den Düdo in die Parklücke zu quetschen.

Kurz hinter Taghazout gibt es parallel zur Hauptstraße eine dunkle Schotterpiste, dort stellen wir uns hin. Toni findet den Platz unheimlich und will nicht bleiben. Wir finden den Platz sicher, denn in der Dunkelheit sieht uns hier kein Mensch, und morgen wollen wir sowieso früh los.

Ich rauche, wegen dem Schock um Katharina, die erste Zigarette seit wir wieder in Marokko sind. Ein Mann kommt in der Dunkelheit vorbei, sagt Salam, ich sage auch Salam, weiß Gott wohin die Schotterpiste führt, wir hatten gedacht ins Nirgendwo.

Als die Kinder eingeschlafen sind, weine ich an Volkers Schulter wegen Katharina. Was sollen wir bloß tun.

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